Kann man sich mit 90 noch lieben?

Markus: Wir sind 91 und 92 Jahre alt und haben 1925 geheiratet. Und wir lieben uns immer noch. Wie das möglich ist? Ich sage dir, das ist viel einfacher als man glaubt. Alles hängt nur von der Auffassung ab, die man von der Liebe hat. Lieben heißt, sein Glück darin zu finden, den anderen glücklich zu machen. Das ist fast egoistisch. So erscheinen unsere eigenen Wünsche, wenn sie sich dem Glück des anderen entgegenstellen könnten, nicht mehr vorrangig. Und wenn du alles auf das Glück des anderen setzt, gibt es auch keinen Grund, warum es nicht für immer dauern sollte.

Georgette: Naturlich muß man sich in einem gewissem Grad selbst vergessen. Das ist nicht immer leicht. Manche Fragen können sogar zur Ursache schwerer Konflikte werden. Was uns betrifft, wußten wir als wir heirateten, dass wir in wesentlichen Fragen übereinstimmten, im Glauben, in der Familie, der Erziehung der Kinder, bei den Freunden und anderen Fragen. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, fallen automatisch viele Diskussionen weg. Es bleiben die kleinen Schwierigkeiten des täglichen Lebens, die man immer überwinden kann, wenn man wirklich den Wunsch dazu hat.
Auf diesem Gebiet ist Offenheit etwas Grundlegendes. Es ist unbedingt notwendig, sich alles sagen zu können, unverzüglich klar zu machen, wo ein Problem liegt, aber mit der Sehnsucht, gemeinsam eine Lösung zu finden, die beide zufrieden stellt. Schweigen ist niemals eine Lösung.

Markus: Aber wie, wirst du fragen, sieht das konkret aus, den anderen glücklich machen? Auch das ist sehr einfach. Man muß auf die kleinen Bedürfnisse achten. Alle Gelegenheiten finden, dem anderen seine Aufmerksamkeit zu zeigen. Und ihn zutiefst respektieren, denn die Achtung vor dem anderen ist eine Grundregel. Und wenn du noch eine gute Portion Humor hinzufügst, ergibt das ein unfehlbares Patentrezept.
Wie jeder andere auch, haben wir Schicksalsschläge erlebt, nicht nur als Ehepaar, sondern im Verlauf unseres Lebens überhaupt. Trennung aus beruflichen Gründen, während dieser Zeit schrieben wir uns täglich. Eine Krankheit nach der Geburt unseres dritten Kindes, durch die meine Frau vier Monate lang ans Bett gefesselt war. Der Krieg, der uns zweimal nacheinander trennte. Da war kein Briefe schreiben möglich, außer zwei kümmerlichen Postkarten pro Monat. Die Auflösung meiner Firma durch das Gericht und anderes. Diese Prüfungen haben jedoch unsere Einheit nicht bedroht. Im Gegenteil, sie haben uns noch mehr zusammengeschweißt.

Georgette: Für uns sind unsere Kinder die größte Quelle der Einheit, natürlich jetzt auch Enkel und Urenkel, denn ihnen gilt unsere ganze Fürsorge und Liebe.

Markus: In den 69 Jahren hat sich unsere Liebe natürlich entwickelt. Was wir füreinander empfinden, ist etwas anderes als das bewundernswerte Staunen über unser Kennenlernen oder die leidenschaftliche Liebe in der ersten Zeit unserer Ehe. Im Gegenteil, ich würde sogar sagen, daß sie von Tag zu Tag durch das, was wir durchlebt haben, reicher wurde, so wie durch alle gemeinsamen Erinnerungen und die tiefe Kenntnis, die wir voneinander haben.

Georgette: Waren wir für einander geschaffen ? Ich weiß nicht, ob dieser Ausdruck für uns zutreffend ist. Ich glaube vielmehr, dass wir für einander geworden sind. Wir haben uns gemeinsam entwickelt, der eine durch den anderen.
Wir haben das große Glück, beide noch am Leben zu sein und nicht an größeren Gebrechlichkeiten zu leiden. Ich sehe nicht mehr gut und mein Mann hört nicht mehr sehr gut. Dazu meinte kürzlich eine Freundin: „Ihr seid derart miteinander verbunden, dass ihr beide nicht mehr zwei Augen und zwei Ohren braucht.”


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